Wie Präsenzberufe familienfreundlicher werden

40 Prozent aller Jobs in Deutschland könnten von Zuhause ausgeübt werden. Aber was ist mit dem Rest? Die Coronakrise hat uns gezeigt, wie wichtig es ist, dass Menschen aus „systemrelevanten“ Branchen weiterhin zur Arbeit gehen. Im Supermarkt an der Kasse sitzen, bei einem Rohrbruch zur Kundschaft fahren oder sich in Krankenhäusern um kranke Patient*innen kümmern. Nur so kann die Grundversorgung gewährleistet werden. „Systemrelevant“ hieß dieser Tage vor allem: körperlich anwesend sein. Meist ist es aber auch gleichbedeutend mit Früh- und Spätschichten, Wochenend- und Feiertagsarbeit sowie viel Flexibilität seitens der Beschäftigten. Wie können Präsenzberufe also familienfreundlicher werden – ganz ohne den Arbeitsort nach Hause zu verlegen?

 

Ein Überblick über systemrelevante Branchen, in denen Anwesenheit gefragt sein kann:

  • Energie

Strom-, Gas-, Kraftstoffversorgung (inklusive Logistik) (z. B. kommunale Energieversorger)

  • Wasser, Entsorgung

Hoheitliche & privatrechtliche Wasserversorgung, sowie die Müllentsorgung (z. B. Müllwerker*innen, Wasserwerke, Kläranlage)

  • Ernährung, Hygiene

Produktion, Groß- & Einzelhandel (inklusive Zulieferung, Logistik) (z. B. Landwirte, Erntehelfer*innen, Verkäufer*innen)

  • Informationstechnik und Telekommunikation

insbesondere Netze entstören & aufrecht erhalten (z. B. Informatiker*in, Systemelektroniker*in)

  • Gesundheit

Krankenhäuser, Rettungsdienste, Pflege, niedergelassener Bereich, Medizinproduktehersteller, Arzneimittelhersteller, Apotheken, Labore

  • Finanz- und Wirtschaftswesen

Kreditversorgung der Unternehmen, Bargeldversorgung, Sozialtransfers

  • Transport und Verkehr

insbesondere Betrieb für kritische Infrastrukturen, öffentlicher Personen- und Güterverkehr sowie Flug- & Schiffsverkehr

  • Medien

insbesondere Nachrichten- & Informationswesen sowie Risiko- & Krisenkommunikation

  • Staatliche Verwaltung

Kernaufgaben der öffentlichen Verwaltung & Justiz (z. B. Polizei, Feuerwehr, Katastrophenschutz)

  • Schulen, Kinder- und Jugendhilfe, Behindertenhilfe

Personal, das die notwendige Betreuung in Schulen, Kindertageseinrichtungen, Kindertagespflege, stationären Einrichtungen der Kinder- & Jugendhilfe sowie Einrichtungen für Menschen mit Behinderung sicherstellt

 

Für viele Berufe gilt: Home-Office unmöglich! Umso wichtiger andere Lösungen für Familienfreundlichkeit zu finden

Es erscheint logisch, dass Kassierer*innen, Pflegekräfte, Handwerker*innen und Erzieher*innen nicht ins Home-Office wechseln können, um Familie und Beruf besser zu vereinbaren. Denn sie sind in Branchen tätig, in denen ihre physische Anwesenheit dringend erforderlich ist. Auch einzelne Tätigkeitsfelder in ansonsten digital gut vernetzten Firmen lassen sich manchmal nicht von einem bestimmten Arbeitsort lösen. Etwa Techniker*innen im operativen Bereich, die an Maschinen oder ganzen Kraftwerken arbeiten wie beim Energie-Unternehmen Vattenfall. Präsenzberufe wird es immer geben! Umso wichtiger, sich jetzt mit der Frage auseinanderzusetzen, welche familienfreundlichen Angebote es für beschäftigte Mütter und Väter neben dem Home-Office noch gibt.

 

Geht nicht? Gibt’s nicht! Von Familienfreundlichkeit profitieren Beschäftigte und Unternehmen gleichermaßen

Im Einzelhandel, Handwerk, dem Gesundheitswesen und in Metall- und Elektroberufen ist – gegen jeden Einwand – eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf umsetzbar! Gerade Branchen, die stark vom Fachkräftemangel betroffen sind, – weil Frauen oder familiär engagierte Väter nicht als Zielgruppe wahrgenommen werden – profitieren nachweislich von mehr Familienfreundlichkeit und Flexibilität für Angestellte. Etwa, weil sich mehr kompetentes Fachpersonal auf ausgeschriebene Stellenangebote bewirbt oder die Mitarbeiterloyalität erheblich steigt. In Präsenzberufen ist der Schlüssel zur Familienfreundlichkeit nicht – oder nicht ausschließlich – die Digitalisierung. Je nach Branche sind in systemrelevanten Berufen eher eine tolerante Unternehmenskultur, Abkehr vom reinen Vollzeitmodell und finanzielle Anreize für Familien gefragt.

 

Faire Schichtdienste, Teilzeitmodelle, partielles Home-Office, attraktive Benefits und vorgelebte Familienfreundlichkeit! Neid im Team? Kein Argument.

Schichtdienste sollten sich möglichst an den Bedürfnissen aller Mitarbeitenden ausrichten, auch wenn dies mehr Aufwand bedeutet. Genauso können Betriebe in „Männerdomänen“ wie dem Handwerk oder Metall- und Elektro Jobs standardmäßig auch in Teilzeit ausschreiben und attraktive Benefits wie Betreuungszuschläge oder Belegplätze in KITAs anbieten. Allem voran werden es aber immer die Führungsverantwortlichen sein, die den Wandel zur familienfreundlichen Unternehmenskultur vorleben müssen. Die oder der Personalverantwortliche, die oder der Wochenendschichten für Mütter und Väter versucht zu vermeiden. Die Betriebsinhaberin oder der Betriebsinhaber eines Handwerksunternehmens, die oder der seine Kinder ein paar Mal pro Woche selbst nachmittags aus der KITA holt und dies als Option auch ihren oder seinen Beschäftigten anbietet – egal, ob weiblich oder männlich. Genauso sollten Geschäftsführende sich einmal Gedanken machen, ob es innerhalb ihres „systemrelevanten“ Unternehmens nicht doch vereinzelt Jobs gibt, die sich wunderbar eignen, um sie als Home-Office-Stelle anzubieten. Häufig lässt sich eventueller Neid im Team ganz einfach vermeiden, indem man a) offen darüber spricht und b) Angestellten ohne Home-Office-Möglichkeit gleichwertige Vereinbarkeits-Angebote oder ein individuell ausgehandeltes Arbeitsmodell zugesteht. Das „Bundesministerium für Familie“ sowie „Erfolgsfaktor Familie“ haben für diese Branchen klare Handlungsempfehlungen zur Familienfreundlichkeit ausgearbeitet. Ganz nach dem Motto „Aus der Praxis für die Praxis“.

 

Familienfreundlichkeit im Handel

Der Einzelhandel ist eine typische Frauendomäne und hat eine Teilzeitquote von 50 Prozent. 1,8 Millionen von insgesamt 2,7 Millionen Beschäftigten sind weiblich. Damit ist der Handel bereits einer der flexibelsten Wirtschaftszweige überhaupt. „Die Arbeitserfordernisse für die Beschäftigten des Einzelhandels unterscheiden sich jedoch deutlich: Sie gestalten sich in der Textilbranche anders als in der Lebensmittel- oder in der Möbelbranche. Warenhäuser haben andere Ladenöffnungszeiten und eine andere Beschäftigungsstruktur als

der Lebensmitteleinzelhandel.“ Lange Öffnungszeiten sowie Wochenendarbeit sind die größten Herausforderungen für Eltern. Vor allem deshalb, weil die Betreuung der Kinder nur schwer sichergestellt werden kann.

FAMILIENFREUNDLICHE LÖSUNGEN FÜR DEN HANDEL:

  • Arbeitseinsatzplan: Wünsche oder Nöte der Beschäftigten bei der Planung der Arbeitszeiten einbeziehen
  • Ampelkonten: Im Team eigenverantwortlich planbare Gleitzeit, die an die Bedürfnisse der Beschäftigten und zu erwartende Kundenströme angepasst wird
  • Kinderbetreuung während der Arbeitszeit: Individuelle Betreuungsmöglichkeiten für Beschäftigte finden, vermitteln, anbieten und/oder bezuschussen
  • Partielles Home-Office: Beschäftigte einzelne Tätigkeiten wie Planung und Organisation nach Hause auslagern lassen

Links:

 

Familienfreundlichkeit im Handwerk

Elternzeit und familienfreundliche Arbeitsmodelle sind in vielen Handwerksbetrieben immer noch ein Tabu-Thema. „Wir arbeiten nach dem Prinzip Selbstausbeutung.“, sagt ein anonymer Handwerksmeister und spricht damit aus, was für die Traditions-Branche immer noch selbstverständlich zu sein scheint. Dabei ist der Frauenanteil in Handwerksberufen mittlerweile auf knapp 30 Prozent gestiegen. Jede fünfte Meisterprüfung wird inzwischen von einer Frau bestanden. Trotz leichten Fortschritten in Sachen Chancengleichheit steckt das Handwerk in einer echten Personalkrise und macht sich dadurch die eigenen Umsätze kaputt. Dass es auch anders geht, zeigt „Erfolgsfaktor Familie“ anhand zahlreicher Praxisbeispiele und Erfolgsgeschichten aus dem Arbeitsalltag.

FAMILIENFREUNDLICHE LÖSUNGEN FÜR DAS HANDWERK:

  • Zeitwertkonten / Lebensarbeitszeit: Beschäftigte können Überstunden aus arbeitsintensiven Phasen sinnvoll nutzen, um Auszeiten für die Familie zu nehmen
  • Kinderbetreuung während der Arbeitszeit: Individuelle Betreuungsmöglichkeiten für Beschäftigte finden, vermitteln, anbieten und/oder bezuschussen
  • Regelmäßige Firmenevents für die ganze Familie: Gemeinsame Aktivitäten stärken den Zusammenhalt und verschaffen einen Überblick darüber wie viele Familien es im Betrieb tatsächlich gibt
  • Elternzeit für Mütter UND Väter: Auszeiten offen anbieten und den Aus- und Wiedereinstieg sorgfältig besprechen
  • Ausbildung in Teilzeit: Damit auch junge Eltern eine Ausbildung absolvieren können, sind individuelle Teilzeitmodelle wichtig
  • Flexible Arbeits- und Pausenzeiten: Arbeitszeiten können sowohl kurzfristig, als auch langfristig an die Bedürfnisse der Beschäftigten angepasst werden. Pausen richten sich, wenn möglich, nach dem individuellen Erholungsbedarf.
  • Familienfreundliche Dienstpläne: Arbeitszeiten werden permanent abgesprochen und eingepflegt
  • Weiterbildung in allen Bereichen: Durch strategisch geplante Weiterbildungsmaßnahmen kann im Ergebnis nahezu jeder jeden vertreten
  • Mitarbeiterbenefits für ein starkes Gesundheitsmanagement: Fitnessstudiomitgliedschaften, Physiotherapiestunden und Workshops zum Stressabbau können Wunder wirken
  • Praktikumsplätze für Mitarbeiterkinder: Kinder können ihren Eltern bei der Arbeit über die Schulter schauen und selbst mitanpacken
  • Hol- und Bringservice für Montagearbeiter*innen: Beschäftigte mit nur einem Auto innerhalb der Familie werden so unterstützt
  • Flexible hausinterne Umschulungsangebote: Wenn die Arbeit wegen Krankheit oder nach einem Unfall nicht mehr ausgeübt werden kann, wird es Beschäftigten ermöglicht hausintern zu wechseln
  • Partielles Home-Office: Beschäftigte einzelne Tätigkeiten wie Planung und Organisation nach Hause auslagern lassen

Links:

 

Familienfreundlichkeit im Gesundheitswesen

„112 – und niemand hilft – Fachkräftemangel: Warum dem Gesundheitssystem ab 2030 die Luft ausgeht“ – in der Studie des Wirtschaftsforschungsinstituts WifOR und der Beratungsgesellschaft PricewaterhouseCoopers wird ein eklatanter Fachkräftemangel vorausgesagt. Dabei beruht betriebliche Vereinbarkeitspolitik nicht auf Gutmenschentum. Gut gemacht, befördert sie stattdessen arbeitsorganisatorische Impulse und Innovationen und verbessert nachhaltig Führungs­ und Kommunikationskultur im Gesundheitswesen. Die Broschüre von „Erfolgsfaktor Familie“ zeigt anhand von Beispielen und Erfahrungen aus der Praxis, wie Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen Vereinbarkeit von Beruf und Familie praktisch umsetzen und gewinnbringend in ihr Geschäftsmodell integrieren können.

FAMILIENFREUNDLICHE LÖSUNGEN IM GESUNDHEITSWESEN:

  • Verlässliche Dienstzeiten sowie Flexi­Dienste: Einhaltung der Dienstzeiten, zusätzlich Beschäftigte im Flexi-Dienst, die je nach Bedarf die Arbeitszeit verkürzen oder verlängern
  • Stand­by­Dienste/Jokerdienste: Ermöglichen es, kurzfristig höheren Bedarf und/oder unvorhersehbare Personalausfälle geplant zu kompensieren und so für möglichst viele Beschäftigte stabil arbeitsfreie Tage sicherzustellen
  • Vertrauensarbeitszeit: Für Beschäftigte in Verwaltungsbereichen oder für Oberärzt*innen
  • Team­Servicezeiten/Modulsysteme: Bei diesem Instrument „übersetzen“ nicht Führungskräfte Besetzungsanforderungen in Dienste und Dienstpläne, sondern die jeweils zuständigen Teams
  • Abwesenheitsplanung: Schafft für Beschäftigte Sicherheit, private Vorhaben zuverlässig realisieren zu können. Möglich werden dadurch aber auch gleichmäßigere Besetzungen und eine ausgeglichenere Arbeitsbelastung.
  • Wahlarbeitszeit: Vertragsarbeitszeit für die Kinderbetreuung auf 75 Prozent reduzieren, mit Eintritt der Kinder in die weiterführende Schule auf 90 Prozent erhöhen, danach auf 100 Prozent aufstocken
  • Sabbatical: Für längere Fortbildungen, Begleitung der ersten Schulzeit des Kindes oder vorübergehende Pflege von Angehörigen
  • Individuelle Jahresarbeitszeitkontingente: Interessant für Beschäftigte, die aufgrund privater Gegebenheiten im Jahresverlauf über unterschiedliche Zeitbudgets verfügen
  • Erreichbarkeits­ und Fixzeiten­Standards: Fixe Termine nicht an die Ränder der Dienstzeiten legen
  • Teilzeitarbeit in Führungspositionen: Jobsharing­Modelle und qualifizierte Vertretungsregelungen

Links: Familienfreundlichkeit im KrankenhausFamilienfreundlichkeit in der Altenpflege

Weiteres Infomaterial von „Erfolgsfaktor Familie“: Familienfreundlichkeit Bergbau, Chemie, EnergieFamilienfreundlichkeit in der Energie- und WasserwirtschaftFamilienfreundlichkeit im Maschinen- und AnlagenbauFamilienfreundlichkeit in Apotheken